Gleichheitssatz statt Familienförderung
von Redaktion Familienbund
Es war das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das 2001 mit seiner Entscheidung zur Pflegeversicherung eine verfassungswidrige Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen in der Sozialversicherung festgestellt hatte.
Das Gericht hat aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG den Grundsatz abgeleitet, dass die Kindererziehung als ein generativer Beitrag für diejenigen sozialen Sicherungssysteme der Gesellschaft zu bewerten ist, die auf das Nachwachsen einer ausreichenden jungen Generation angewiesen sind: Werde dieser generative Beitrag nicht mehr in der Regel von allen Versicherten erbracht, so führe dies zu einer spezifischen Belastung kindererziehender Versicherter im Pflegeversicherungssystem, deren benachteiligende Wirkung auch innerhalb dieses Systems auszugleichen sei. Die kindererziehenden Versicherten sicherten die Funktionsfähigkeit der Pflegeversicherung also nicht nur durch Beitragszahlung, sondern auch durch die Betreuung und Erziehung von Kindern.
Es stellte außerdem unmissverständlich klar, dass der zwischen Eltern und kinderlosen Personen vorzunehmende Ausgleich durch Regelungen zu erfolgen habe, die die Elterngeneration während der Zeit der Betreuung und Erziehung entlasten, „denn die Beiträge, die von der heutigen Kindergeneration später im Erwachsenenalter auch zugunsten kinderloser Versicherter geleistet werden, basieren maßgeblich auf Erziehungsleistungen ihrer heute versicherungspflichtigen Eltern, die hiermit verbundene Belastung der Eltern tritt in deren Erwerbsphase auf – sie ist deshalb auch in diesem Zeitraum auszugleichen“.
Ausdrücklich gab das BVerfG dem Gesetzgeber auf, „die Bedeutung des vorliegenden Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung zu prüfen“. In der verfassungswidrigen Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen liegt eine zentrale und häufig übersehene Ursache für die Armut von Familien.
Der Gesetzgeber hat das Urteil zwar für den Bereich der gesetzlichen Pflegeversicherung umgesetzt, indem Versicherte ohne Kinder einen geringfügig höheren Versicherungsbeitrag entrichten als versicherte Eltern. Er hat jedoch eine Übertragung für die wesentlich wichtigeren Bereiche der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung abgelehnt.
Für die Rentenversicherung liegt die Übertragbarkeit dieser Grundsätze jedoch auf der Hand: Sie ist auf das Nachwachsen einer ausreichend großen Generation angewiesen, denn die heute geborenen Kinder zahlen in Zukunft mit ihren Beiträgen für die Renten ihrer Eltern und für die der kinderlosen Jahrgangsteilnehmer. Auch die Gewährung von drei Rentenjahren für nach 1992 geborene Kinder ändert hieran nichts. Denn diese Leistungen werden dereinst von den Kindern der heutigen Eltern erbracht – es findet gerade kein Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Beiträgen von Eltern und Kinderlosen innerhalb einer Generation statt. Außerdem betragen sie nur einen Bruchteil dessen, was ein Kind im Durchschnitt an „externen Effekten“ für die Rentenversicherung erbringt. Die mit der demografischen Entwicklung absehbar weiter steigenden Sozialversicherungsabgaben werden den Familien immer weiter das Wasser abgraben.
Jedoch ist auch die Krankenversicherung auf eine ausreichend große nachwachsende Generation angewiesen. Obwohl Rentner selber Krankenversicherungsbeiträge entrichten, könnten sie doch keine adäquate Absicherung innerhalb ihrer Generation bewirken, denn sie verbrauchen einen sehr viel größeren Anteil an Leistungen als sie mit ihren Versicherungsbeiträgen decken können. Dagegen gehören durchschnittlich verdienende Familien mit bis zu drei Kindern ebenso wie Alleinstehende zu den Nettozahlern der Gesetzlichen Krankenversicherung.
In der verfassungswidrigen Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen auf der Beitragsseite in der Renten- und Krankenversicherung liegt eine zentrale und häufig übersehene Ursache für die Armut von Familien. Hier geht es um Summen, die auch durch die steuerfinanzierte sogenannte Familienförderung nicht wieder kompensiert werden können. Es ist dringend an der Zeit, dass dies geändert wird, denn die mit der demografischen Entwicklung absehbar weiter steigenden Sozialversicherungsabgaben werden den Familien immer weiter das Wasser abgraben.
Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 30. September 2015 die Entlastung von Eltern bei den Abgaben zur Renten- und Krankenversicherung mit Hinweis auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für verfassungsrechtlich nicht zwingend gehalten und die Klage einer Familien mit 3 Kindern auf Beitragsreduktion abgewiesen. Die gegen dieses Urteil bereits angekündigte Verfassungsbeschwerde wird dem BVerfG die Gelegenheit geben, seine Grundsätze aus dem Pflegeversicherungsurteil vom 3.4.2001 auch auf die Renten- und Krankenversicherung zu übertragen.
Um die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Eltern auch im Sozialversicherungsrecht zu berücksichtigen, muss mindestens ein Beitrag in Höhe des (steuerlichen) Existenzminimums von Kindern von der elterlichen Beitragsbemessungsgrundlage zur Sozialversicherung in Abzug gebracht werden. Die sinkenden Sozialversicherungsbeiträge für Eltern müssten von denjenigen Versicherten kompensiert werden, die gegenwärtig keine Unterhaltspflichten für Kinder tragen.
Dies ist verfassungsrechtlich zwingend, weil Ungleiches nicht gleich, sondern seiner Eigenart entsprechend behandelt werden und die Unterhaltspflicht der Eltern in das Sozialversicherungssystem eingestellt werden muss. Außerdem verwirklicht es in besonderer Weise das familienbezogene Neutralitätsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG: So kann dieser für alle gleiche Betrag pro Kind bei berufstätigen Eltern je zur Hälfte von deren Einkommen abgezogen werden mit der Folge, dass für beide die Nettoeinkommen steigen. Ein Alleinverdiener könnte den Betrag zur Gänze geltend machen. Alleinerziehende, die vom anderen Elternteil keinen Kindesunterhalt erhalten, was immerhin für die Hälfte der unterhaltsberechtigten Kinder der Fall ist, könnten ebenfalls den gesamten Betrag in Abzug bringen, was ihr Einkommen erheblich aufwerten würde.
Schließlich würde auch keine unsoziale progressive Entlastungswirkung eintreten, da in allen Fällen der gleiche Betrag vom zu verbeitragenden Einkommen abgezogen wird. Die sinkenden Sozialversicherungsbeiträge für Eltern müssten von denjenigen Versicherten kompensiert werden, die gegenwärtig keine Unterhaltspflichten für Kinder tragen. Diese Lösung ist auch alles andere als eine „Strafabgabe für Kinderlose“, sondern berücksichtigt lediglich die unterschiedliche Leistungsfähigkeit von Menschen mit und ohne Unterhaltspflichten gegenüber Kindern.
Kinderlosigkeit ist demnach keine moralische, sondern eine sozio-ökonomische Kategorie, die auch auf diejenigen zutrifft, deren Kinder erwachsen sind und auf eigenen Füßen stehen. Die Umverteilung unter den Sozialversicherten würde die ökonomischen Folgen der Kinderlosigkeit ein Stück weit den Kinderlosen zuordnen. Im derzeitigen System werden diese Kosten durch gleichmäßige Leistungskürzungen auf alle umgelegt – auch auf diejenigen, die für den demografischen Wandel keine Verantwortung tragen. Diese neue Zuordnung von Lebensentwurf und Verantwortung würde Transparenz über das Wesen des Generationenvertrages herstellen und vielleicht sogar größere Auswirkungen auf die Geburtenrate haben als die steuerfinanzierte Familienpolitik nach dem Gießkannenprinzip.
Quelle: Familienbund der Katholiken: Forum Familie, Nr. 67, Nov. 2015
Prof. Dr. jur. Anne Lenze ist Professorin für Familien-, Jugend- und Sozialrecht an der Hochschule Darmstadt. Ihr Forschungsfeld umfasst die Reform des Sozialstaates, Generationengerechtigkeit, die Sozialversicherung sowie das Steuerrecht.